Endlich ist es so weit! Das Warten hat ein Ende und Ihr könnt hier das komplette Interview genießen, welches ich mit der Autorin Gesa Schwartz führen durfte. Wie bereits im Blog vorab verkündet, ziehe ich meinen Hut vor der phantastischen Schreibfeder der Autorin. Das Talent von Gesa Schwartz durchdringt nicht nur ihre Geschichten rund um Grim, sondern findet sich auch in ihren Antworten wieder. Ich persönlich bin absolut hingerissen. Doch staunt selbst darüber …
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Liebe Gesa Schwartz, da ich nicht gerne um den heißen Brei herumrede, stürme ich jetzt gleich los um Sie mit ein paar Fragen zu löchern. In Ihrer Vita ist zu lesen, daß Sie sich auf die Spurensuche nach den alten Geschichtenerzählern begeben haben. Sind Sie fündig geworden?
Ich habe nicht so sehr nach den Geschichtenerzählern selbst gesucht, sondern mich im Rahmen meiner einjährigen Europareise vielmehr auf ihre Spuren begeben, und ich habe tatsächlich vieles vom dem gefunden, das ich suchte. Insbesondere sind das natürlich Geschichten gewesen, die ja nicht nur von Menschen, sondern auch von Orten oder Gegenständen erzählt werden können. Mitunter kann man aus dem Mund einer steinernen Statue größere Geheimnisse erfahren als aus den Schriften und Erzählungen der Menschen – und sei es nur das Rätsel der vollkommenen Stille.
Was war Ihr schönsten Erlebnis bei dieser Spurensuche?
Das ist schwer zu sagen, da es so viele verschiedene Eindrücke und Erlebnisse waren. Es war großartig, Stätten wie Pompeji, die Akropolis oder Delphi zu besuchen, aber es war auch interessant, die Menschen der unterschiedlichen Länder kennenzulernen und in ihre Kultur einzutauchen. Generell sind es gerade die scheinbar kleinen Dinge, die mir im Gedächtnis geblieben sind. Das Klackern der Steine, die am Strand von Kardamili den Wellen nachgelaufen sind. Das Flüstern des Windes in den Wäldern von Brocéliande. Oder der wilde und würzige Geruch auf den Hügeln rund um Matera. Schön war es immer dann, wenn es mir gelungen ist, wirklich in dem einzigen Moment da zu sein, den ich habe: der Gegenwart. Und wenn ich fähig war, mich finden zu lassen – vom Leben. Niemals vergessen werde ich eine Nacht in Lissabon, während der ich durch die Stadt streifte und auf einmal auf einem kleinen Platz etliche Menschen sah, die zu klassischer Musik aus einem uralten Kassettenrekorder Tango tanzten. Einige trugen vornehme Garderobe, anderen sah man an, dass sie nur einen einzigen Sonntagsanzug besaßen und ihn zu diesem Anlass aus dem Schrank geholt hatten, und wieder andere trugen Alltagskleidung. Sie tanzten schweigend und ich erinnere mich, dass ich am Rand stand und diese unwirkliche Szene betrachtete. Und ich dachte: So müssen Engel aussehen, wenn sie auf der Erde leben und tanzen würden. Das war ein sehr intensiver Augenblick für mich.
Aus welchem Bereich Ihres Studiums ( Deutsche Philologie, Philosophie, Deutsch als Fremdsprache ) können Sie den besten Nutzen für Ihre schriftstellerische Tätigkeit ziehen?
Letztlich hat mich mein Studium im Ganzen hervorragend auf meinen jetzigen Beruf als Schriftstellerin vorbereitet, da es mein Interesse für Literatur, Philosophie, Gedanken und Menschen noch gesteigert und mir die Möglichkeit gegeben hat, in all diesen Bereichen ein größeres Wissen und ein intensiveres Empfinden auszubilden. Im Umgang mit Texten greife ich ganz automatisch auf den Fundus zurück, den ich mir während des Studiums der germanistischen Disziplinen angeeignet habe, und die Philosophie schulte mich besonders im Umgang mit geistigen Konstrukten (und nichts anderes ist eine Geschichte ja zunächst), die mitunter sehr lange sozusagen im luftleeren Raum existieren müssen, ehe man sie auf ein äußeres Fundament stellt, und an deren Schönheit man dennoch oder gerade deshalb glauben muss, um sie im Vakuum des Geistes nicht ersticken zu lassen.
Hier ein kleiner Auszug aus einem Zitat von Otl Aicher: „Es ist schwieriger, ein wahres Bild zu photographieren, als ein unter Scheinwerfern inszeniertes Objekt darzustellen, ….“ Auf Ihrer Homepage findet man die bildhafte Darstellung Ihrer Recherche-Einsätze zu Grim. Würden Sie Otl Aicher zustimmen?
Ja, auf jeden Fall. Es ist immer schwieriger, die Wahrheit zu finden und einzufangen, als etwas Künstliches abzubilden. Natürlich hat jeder Mensch seine eigene Wahrheit, aber ich denke, dass Michael Ende recht hat, wenn er sagt: „Die Tatsachen, die ihr finden werdet, entsprechen immer der Art, wie ihr nach ihnen fragt“, und „die Geheimnisse der Welt ergeben sich nur demjenigen, der bereit ist, sich von ihnen verwandeln zu lassen“. Wenn ich die Hand auf den verrosteten Türklopfer des Hôtel Raoul in Paris lege, geht mir unweigerlich der Gedanke durch den Sinn, was wohl passieren würde, wenn es mir gelänge, die Tür zu öffnen, wohin ich dann käme – und welche Wahrheiten ich dahinter finden würde. Daher recherchiere ich auch sehr intensiv für meine Geschichten, denn es ist mir wichtig, dem Leser das Gefühl zu vermitteln, dass mehr in der Welt steckt, als wir auf den ersten Blick sehen und für möglich halten. Umso beeindruckter war ich, als ich während meiner Arbeit an GRIM feststellte, dass die Recherche und die Entwicklung der Geschichte mitunter stark miteinander verzahnt sind und mich so zur Wahrheit des Textes führen können. Ein Beispiel hierfür, das ich bereits an anderer Stelle erwähnte, ist Grims Zuhause in Paris, der Turm Saint Jacques. In einer der ersten Szenen während der Planungsphase von Grim I stellte Grim auf einmal fest, dass er in bzw. unter diesem Turm wohnen würde. Zu jener Zeit hatte ich noch keine Ahnung, wo ich meinen Protagonisten unterbringen sollte, aber ich wusste, dass er in einer Kirche zuhause war – und der Turm Saint Jacques ist definitiv keine Kirche. So vergeudete ich Wochen damit, die Kirchen in Paris zu durchstreifen (und merkte unterdessen in den Szenen, die ich mit Grim schrieb, dass er über meine wunden Füße am Abend lachte), bis ich herausfand, dass auch der Turm Saint Jacques einst eine Kirche gehabt hatte – nämlich die Kirche Saint-Jacques-la-Boucherie, die angeblich 1797 abgerissen worden war.
Kaum hatte ich davon gelesen, kam mir die Idee, dass Grim etwas mit dieser Kirche verbunden hat, etwas Geheimes, Trauriges – und dass er eine Möglichkeit fand, das Gebäude in seine unterirdische Welt zu bringen. Den letzten Ausschlag für die Entscheidung, Grim tatsächlich unter dem Turm Saint Jacques anzusiedeln, haben dann die Tauben gegeben. Mehrfach habe ich den Turm besucht – und jeder, der schon einmal in Paris war, weiß, dass es dort vor allem in Reichweite der Sehenswürdigkeiten und Kirchen nur so von Tauben wimmelt. Meistens sitzen sie auf den steinernen Figuren an den Fassaden oder auf den Dächern, und auch rings um Grims Turm war der Rasen graugefleckt von Massen an Tauben. Doch keine – keine! – wagte es, sich in all der Zeit, in der ich diesen Ort besuchte, auch nur einmal auf die Figuren des Turms zu setzen. Mag sein, dass es dafür andere, taubeninterne Gründe gab. Aber für mich stand fest, dass Grim seine Klauen im Spiel hatte, denn er ist ja nicht unbedingt als Taubenfreund bekannt. Ich erinnere mich noch, wie ich kurz darauf erstmals den Turm Saint Jacques als Grims Heim in einer Szene darstellte – und wie Grim in meinem Kopf unterdessen die rechte Augenbraue hob und verächtlich fragte, warum ich nicht auf ihn gehört hätte, als er sagte, der Turm Saint Jacques sei sein Zuhause. Ich hätte mir eine Menge Rennerei ersparen können.
Ihre Bilder haben mich zurück zu „Grim – Das Siegel des Feuers“ gebracht. Denn wenn ich z.B. das 12. Bild der Gargoyles betrachte, sehe ich die verstorbene Gargoylefrau Moira. Inwieweit haben sich die „Gestalten in Stein“ in ihren Büchern optisch manifestiert?
Ich habe keine der Steinfiguren optisch in meine Geschichte übernommen, weil meine Gargoyles zuerst in meinen Gedanken erschienen sind und ich sie erst danach teilweise in der Realität gefunden habe (manchmal war das durchaus ein wenig unheimlich). Wer auf Spurensuche gehen will, könnte sich den Turm Saint-Jacques einmal genauer ansehen. Einige der Figuren sehen manchen Charakteren in meiner Geschichte überaus ähnlich – insbesondere Fibi könnte mit dem einen oder anderen Teufel des Turms verwandt sein. Bestimmte Einzelheiten wie die Beschaffenheit der steinernen Haut oder die besondere Mimik, Gestik oder Ausstrahlung einer Statue haben mich aber häufig inspiriert und sich auch auf die feineren Charakteristiken meiner Figuren ausgewirkt, und ich finde es immer sehr spannend zu erfahren, wie meine Leser sich meine Figuren vorstellen. Darüber hinaus war die Gargoyle-Recherche für mich ein sehr sinnliches Erlebnis; der Geruch von Stein, das Gefühl, über steinerne Wangen zu streichen oder die verschiedenen Steinarten, die für Skulpturen verwendet wurden, waren sehr wichtig für mich.
Die Welt, in der wir leben ist ein Kosmos für sich. Die Anderwelt, in der Grim lebt, ist ein Kosmos für sich.
Stellt sich für Sie die Frage, ob es neben unserem „Welt-Kosmos“ einen „Anderwelt-Kosmos“ gibt?
Zunächst muss ich widersprechen: Die Menschen- und die Anderwelt sind im GRIM-Universum keine voneinander getrennten Kosmen. Vielmehr sind sie Bruchstücke einer Welt, die vor langer Zeit auseinander gerissen wurde und deren Teile letzten Endes nur zusammen ein Ganzes bilden können. Diese Zerrissenheit der Welt setzt sich jedoch weiter fort, denn sie findet auch im Inneren der Bewohner dieser Welten statt, ein Umstand, der besonders im zweiten Band deutlich wird und der sich nicht nur in der fiktionalen Welt des Textes findet, sondern ganz besonders auch in unserer Realität. Denn es steht für mich außer Frage, dass es neben der sogenannten äußeren, sinnlich erfahrbaren Welt noch weitere Welten gibt, die nicht mehr oder weniger wert sind als unsere sogenannte Realität. Doch wir machen uns zunehmend seltener bewusst, dass unsere innere Welt untrennbar mit der äußeren Welt verbunden ist, dass eine strikte Trennung von subjektiver und objektiver Welt nicht funktionieren kann und wir die äußere Welt mit unseren Vorstellungen, mit unseren Gedanken, unserem Willen bilden – dem Kern also der sogenannten Innerlichkeit, deren Basis die Phantasie ist.
In gewisser Weise lebt die Anderwelt in uns allen, denn ohne sie wären wir in der Wüste, die wir uns erschaffen haben, schon verdurstet. Ich halte es für einen großen Missstand, dass dieses Wissen zunehmend in Vergessenheit gerät. Denn dieser Umstand hat inzwischen nicht nur dazu geführt, dass wir uns der Welt entfremden, die uns umgibt, weil wir nicht mehr fähig sind, sie uns fühlbar zu machen. Er hat uns auch von uns selbst entfernt. Diese Zerrissenheit zeige ich in Grims Geschichte, und was für meine Figuren gilt, das gilt auch für uns in unserer Realität: Das, was wir der äußeren Welt mit unserer Blindheit und Ignoranz antun, tun wir auch unserem Inneren an. Ich denke, dass mehr in unserer sogenannten Realität steckt, als wir ahnen – Dinge, die einmal ein Teil von uns waren, ein Teil unserer Kultur und unseres Menschseins, die wir vergessen oder verdrängt haben, weil sie keinen Platz mehr haben in unserer rationalisierten Welt, und die wir dennoch lebensnotwendig brauchen. Wir können sie wiederfinden, davon bin ich überzeugt – wenn wir unseren geradezu armseligen Begriff von Realität überdenken und uns von der Poesie sagen lassen, was wahr ist und was nicht.
Sie leben laut Vita in einem Zirkuswagen. Würden Sie sich selbst als Vagabund bezeichnen?
Nachdem ich ein Jahr durch Europa gereist war, stand ich vor der Entscheidung, mich dauerhaft an einem Ort niederzulassen. Allerdings erschienen mir vier steinerne Wände auf einmal auf seltsame Weise beengend und aus diesem Gefühl heraus entsprang dann die Idee des Zirkuswagens. In gewisser Weise ist der Zirkus ein Leitmotiv in meinen Gedanken, ein Symbol für etwas, das ich noch nicht vollständig in Worte fassen kann – etwas, das unter der dünnen Haut der sogenannten Realität liegt. Somit ist für mich auch mein Wagen ein Symbol für etwas, für das es in unserer ökonomisierten Welt eigentlich keinen Platz mehr gibt, wonach sich viele Menschen aber dennoch sehnen, instinktiv und ohne vielleicht Worte dafür zu haben. Man mag es Poesie nennen wie Michael Ende, möglicherweise ist es nicht mehr als ein Riss in der Welt, die wir die Wirklichkeit nennen und in der noch viel mehr steckt als wir momentan ahnen. Auf jeden Fall ist mein Wagen für mich täglich eine Erinnerung daran, dass ich in der Tat ein unsteter Geist bin – jemand, der manchmal sogar für sich selbst keine Worte mehr hat und nur eines ganz sicher weiß: So, wie die Welt jetzt ist, kann sie mir keine Heimat sein. Ich muss sie mir selbst bauen – die Welt, in der ich leben kann. Und auf diesem Weg ist mein Stück Zirkus ein erster Schritt.
Fernab vom Vampir- und Gestaltwandlerhype setzen Sie einen anderen Akzent und wählen als Helden einen Gargoyle. Wie sind Sie auf die Wahl Grim gekommen. Oder besser gefragt: Hat eher Grim die Wahl getroffen?
Die Entscheidung, Grims Geschichte zu erzählen, habe ich getroffen – aber ohne ihn wäre ich nie auf die Idee gekommen, das zu tun. Wie ich in anderen Interviews schon sagte, war der Auslöser der Geschichte ein Bild, das eines Nachts in mir auftauchte. Ich sah eine dunkle, steinerne Gestalt mit gewaltigen Schwingen hoch über den Dächern von Paris. Als ich mich der Gestalt näherte, konnte ich ihr ins Gesicht schauen. Es war das Gesicht eines Gargoyles, eines Engels, eines Dämons – vielleicht von allem ein bisschen. Er sah mich mit seiner Narbe über dem Auge an und nannte mir mit vorsichtigem Lächeln seinen Namen. So lernte ich Grim kennen, und von diesem Zeitpunkt an wusste ich, dass ich seine Geschichte erzählen wollte. Er war und ist immer das Zentrum der Geschichte gewesen, und alles Weitere – die anderen Figuren, der Hintergrund, die Welt, in der er lebt – entwickelte sich um ihn herum. Grim hat sich jedoch auch selbst zu diesem Thema geäußert. Auf meiner Homepage (www.gesa-schwartz.de) findet man einen Brief, in dem er sich an die Leser wendet und seine Sicht der Dinge erzählt …
Darüber hinaus habe ich mich immer schon bemüht, hinter und in der Realität, wie wir sie kennen, das Geheimnisvolle zu sehen, und mich gefragt, was hinter den Dingen liegt. Gargoyles und steinerne Figuren im Allgemeinen sind da in ihrer Schattenhaftigkeit besonders dankbare Objekte. Wie ich in anderen Interviews bereits sagte, findet man sie an unzähligen Kirchen und anderen Gebäuden, sie sind Teil unserer Kultur und unseres Lebens und doch fallen sie den wenigsten Menschen noch auf. Sie sind wie steinerne Schatten, deren Vergangenheit wir vergessen haben, die blass geworden sind, weil der Regen ihnen die kräftigen Farben, die mittelalterliche Exemplare noch trugen, abgewaschen hat und uns ihre einstige Bedeutung nicht mehr bewusst ist. Mitunter ist es sogar schwer, sie in der Fülle der Ornamente an gotischen Kathedralen überhaupt zu erkennen – und doch sind sie da und scheinen aus steinernen Augen die Menschen zu beobachten, die keinen Blick für sie übrig haben. Somit sind Gargoyles in ihrer Schattenhaftigkeit ein Sinnbild für die Existenz des Geheimnisvollen in unserem Alltag, das mich schon immer fasziniert hat.
Hinzu kommt noch eine gewisse Düsternis, ein Hauch des Unheimlichen und Bösen oder zumindest Ambivalenten, der in der Geschichte der Gargoyles begründet liegt. Die Funktion der Speier hatte besonders im Mittelalter ja hauptsächlich abwehrenden Charakter, was auch durch das Ausspeien des Wassers verdeutlicht wird: Nicht nur das Speien an sich, auch das fließende Wasser besaß nach mittelalterlichem Glauben die Kraft, das Böse zu vertreiben – zumal dann, wenn es sich um Regen, also „Himmelswasser“ handelte. Zahlreiche Wasserspeier wurden als Apotropaika, Dämonenabwehrer, dargestellt, wie beispielsweise die meist menschlichen Bartweiser-Speier oder Tiere, die bereits im Physiologus als Kämpfer gegen das Böse beschrieben werden. Darüber hinaus zeichnen sich die meisten Wasserspeier durch eine Dämonisierung aus (so wurden Tieren artfremde Attribute hinzugefügt, ihre Gesten wurden der Natur entfremdet und deuten so auf ein Dämonenwesen hin, oder einst majestätische Geschöpfe wurden ihrer Erhabenheit beraubt und so dem dämonischen Reich zugeordnet, wie beispielsweise der Schlappohrengreif am Kölner Dom), um nach dem Grundsatz similia similibus curantur – Gleiches wird geheilt durch Gleiches – Dämonen durch ihr Spiegelbild zu vertreiben. Aus diesem Grund handelt es sich übrigens bei mittelalterlichen Speiern ausschließlich um Unikate: Durch die zahlreichen Variationen wurde gewährleistet, möglichst viele Dämonen in die Flucht zu schlagen.
Und noch heute personifizieren die Gargoyles für viele Menschen das Böse. An der Washington National Cathedral prangt zum Beispiel ein ganz besonderer Wasserspeier, nämlich der Kopf von Darth Vader. Im Rahmen eines Wasserspeier-Design-Wettbewerbs wurde er mit der Begründung vorgeschlagen, dass Darth Vader in der heutigen Zeit als Verkörperung des Bösen die ideale Besetzung für einen Wasserspeier wäre.
In GRIM verwischen die Grenzen zwischen Gut und Böse. Es gibt keine Eindeutigkeit und ich habe einige Beschränkungen aufgebrochen, die durch Einordnungen in der Forschung bestehen. Die Gesellschaft der Gargoyles reicht in meiner Geschichte weit über die Wasserspeier hinaus. Zwar gibt es beispielsweise die Sputatores, den vornehmsten Wasserspeierclan von ganz Paris, oder den Clan der Mephisti, deren Mitglieder den dämonischen Gargoyles an Kirchengebäuden am ehesten entsprechen, wobei ich den Grund für die oftmals abschreckend verzerrten Gesichter neu gedeutet und auf andere Füße gestellt habe. Aber der Begriff der Gargoyles beschränkt sich in GRIM nicht auf Wasserspeier, sondern umfasst steinerne Figuren im Allgemeinen. Denn nicht nur Wasserspeier sind umgeben von einer Aura des Geheimnisvollen und Unnahbaren. Wer jemals den Apollo von Belvedere gesehen, den barberinischen Satyr im Schlaf berührt oder die Hand auf die steinernen Finger des Sterbenden Galliers gelegt hat, der spürt, dass unter der Haut dieser Statuen mehr liegen könnte als Stein. Dieses MEHR ist es ja, das die Phantasie begründet und die phantastische von der mimetischen Literatur unterscheidet. Und wenn man das einmal gefühlt hat, kann man nicht mehr über einen Friedhof gehen, ohne sich aus steinernen Augen beobachtet zu fühlen, oder unter der Nike von Samothrake stehen, ohne ein leichtes Flügelrauschen zu hören.
Wo ist Ihnen Grim das erste Mal über den Weg gelaufen? Sprich: Wann hat er an ihre geistige Tür geklopft?
Das war eines nachts, als ich durch die Straßen einer unbedeutenden Stadt ging.
„Vor eintausend Jahren, regierten Aberglaube und Schwerter die Welt. Die Zeiten waren finster und voller Schrecken und Furcht. Es war das Zeitalter der Gargoyles. Am Tage aus Stein, wir Ritter der Nacht, wurden wir von den Menschen verraten, die wir beschuetzen wollten. ein Zauber ließ uns versteinern – für ein tausend Jahre. Heute, hier in Manhattan, ist der Zauber gebrochen und wir sind zu neuem Leben erwacht. Wir sind die Ritter der Nacht, wir sind die Garoyles…“ Kenne Sie diese Textpassage zu anderen Gargoyles noch? Goliath, Brooklyn, Lexington, Broadway, Hudson und natürlich Bronx?
An den genauen Wortlaut konnte ich mich nicht mehr erinnern, aber die Gargoyles-Serie kenne ich natürlich und ich mochte sie sehr.
Ihr zweites Buch: „Grim – Das Erbe des Lichts“ ist bereits erschienen. Konnten Sie Einfluß auf die Gestaltung des Covers nehmen. Denn es ist gelinde gesagt: mehr als gelungen. Prägungen, partielle Lackierung – einfach perfekt.
Wie bereits beim ersten Cover habe ich eng mit Verlag und Grafiker zusammengearbeitet, auch hinsichtlich der Vorsatzillustration und der Vignette. Ich bin froh, dass LYX mich so stark in den Entstehungsprozess einbezogen hat. In meinen Augen bilden das äußere Erscheinungsbild und der Text eine Einheit, wie beim ersten Band transportieren sie zusammen die Stimmung der Geschichte und das freut mich sehr.
Als Sie „Das Erbe des Lichts“ geschrieben haben, gab es da einen Moment, an dem Sie sich vor lauter Verzweiflung die Haare raufen oder vor Freude laut auflachen mussten?
Solche Momente gab es bisher bei jeder meiner Geschichten, wobei wirkliche Verzweiflung eigentlich nur dann aufkommt, wenn ich das Gefühl habe, den Bezug zu meiner Geschichte zu verlieren, und das passiert meistens dann, wenn äußere Faktoren zu großen Einfluss auf mein Schreiben haben. Daher ist es für mich sehr wichtig, diese Dinge auszusperren und mich auf meine Geschichten und Figuren einzulassen. Glücklich bin ich immer in dem Moment, in dem eine Geschichte anfängt zu atmen – und wenn eine Figur, die lange mit geneigtem Kopf in der hintersten Ecke meines inneren Stirnzimmers hockte, den Blick hebt und mir ihren Namen nennt.
Wenn man Sie bittet, Grim knapp zu beschreiben, wie würde diese Beschreibung lauten?
Für mich ist der Name einer Figur immer ein Schlüssel zu ihrem Charakter, auch wenn ich die Bedeutung erst nach und nach herausfinde. Daher ist der Augenblick, in dem eine Figur mir ihren Namen nennt, auch immer etwas ganz Besonderes. Als ich Grims Namen erfuhr, wusste ich, dass ich seine Geschichte erzählen will, weil ich gespürt – nicht gewusst – habe, wer er ist und werden kann. Die kürzeste Beschreibung meines Protagonisten ist daher sein Name: Grim. Mittelhochdeutsch grim bedeutet Zorn, Rauheit, Heftigkeit, mhd. grimme jedoch verzweifelt oder Schmerz, und wer die Bücher gelesen hat, weiß, dass Grim eng mit diesen Begriffen verbunden ist – gerade auch, da sich hinter seiner äußeren Fassade so viel verbirgt, das er vor allem und jedem geheim halten will, sogar vor sich selbst, und das auch ich noch nicht vollends durchdrungen habe.
Mia ist eine junge Menschen-Frau mit der Gabe, das Mögliche zu sehen. Wie würden Sie den Charakter von Mia erläutern?
Am liebsten gar nicht. 😉 Es widerstrebt mir, Interpretationen zu meinen Geschichten zu liefern, denn ich möchte, dass jeder Leser sich selbst Gedanken zu meinen Figuren machen kann oder eben nicht. Da gibt es kein Richtig oder Falsch. Für mich ist Mia eine außergewöhnliche junge Frau, die Grim in jeder Hinsicht gewachsen ist. Auch sie trägt Widersprüche in sich, auch sie ist innerlich zerrissen, auch sie steht zwischen den Welten. Denn sie ist eine Seherin unter Blinden, wie sie selbst sagt, und sie sehnt sich danach, dass Ander- und Menschenwelt wieder vereint werden. Nur so könnte sie selbst eine Heimat finden, zumindest ist sie bislang davon überzeugt. Doch Mia befindet sich noch auf der Suche nach ihrer Wahrheit – ebenso wie Grim.
Die Schneekönigin in “ Das Erbe des Lichts“ ist eine sehr „bittere“ Antiheldin. Wie hat sie sich bei Ihnen Gehör verschafft?
So, wie sie es im Buch auch tut: über Mias Bruder Jakob. Letztlich bin ich über ihn auf die Idee zu dieser Geschichte gekommen, weil er sich nämlich im ersten Band hartnäckig geweigert hat zu sterben. Wenn eine Figur das in dieser Intensität tut, hat sie meistens recht, und oft verbirgt sich hinter diesem Verhalten eine Geschichte – so wie in diesem Fall. Am Ende des ersten Bandes stellte sich ja heraus, dass Jakob sich in die Feenwelt gerettet hat, um der mordlustigen Autorin zu entkommen. Er sagte Mia, dass er möglicherweise eines Tages in die Welt der Menschen zurückkehren könnte, aber ich wusste, dass er einen schweren Weg vor sich haben würde. Und so habe ich ihn in Gedanken zur Königin der Feen begleitet, denn nur sie, so stellte sich heraus, konnte Jakob freigeben und ihm eine Rückkehr in die Menschenwelt ermöglichen. Je weiter wir uns nun ihrem Schloss näherten, desto kälter wurde es, wir sahen dunkle Vogelschwärme und es fiel Schnee. Und eines Tages erreichten wir ihren Palast, der ganz und gar aus Eis bestand. Wir traten ihr gegenüber und von dem Moment an bestand kein Zweifel mehr: Die Königin der Feen war die Schneekönigin. Daraufhin war ich zunächst einmal ein wenig verwirrt, da ich die Gestalt der Schneekönigin nie mit einer Fee in Verbindung gebracht hatte. Ich habe dann noch einmal das Märchen von Hans Christian Andersen gelesen, und mir fielen mehrere Beschreibungen der Königin auf, weil sie so deutlich der Figur entsprachen, die ich gerade gemeinsam mit Jakob gefunden hatte. Daraufhin habe ich eingehender recherchiert und herausgefunden, dass die Schneekönigin tatsächlich in manchen Märchenbüchern und Erzählungen als Fee bezeichnet wird. So war die Entscheidung für meine Antagonistin gefallen. Außerdem gab es während des eigentlichen Schreibprozesses einen ungewöhnlichen äußeren Einfluss auf das Aussehen und die Charakeristik der Schneekönigin. Und zwar trug ich von Anfang an beim Schreiben einen Ring, den ich kurz zuvor im hohen Norden gekauft hatte. Er trägt den Titel „Morgana“ und zeigt das Gesicht einer Frau – ein Gesicht, in dem etwas ganz Besonderes liegt, etwas, das früher auch einmal in der Urfee Morrigan, die ja im Buch eine wichtige Rolle spielt, vorhanden war – und das nun vor allem das Antlitz der Schneekönigin prägt. Der geneigte Leser kann sich selbst ein Bild davon machen, denn mein Ring diente als Vorlage für die Vignette, die vor jedem Kapitel zu finden ist. Im Buch habe ich es so beschrieben: „Es war ein Bild stiller Anmut, gepaart mit einer Unruhe, die wie ein flackernder Schatten hinter den Lidern der Königin vorüberzog.“
In der Anderwelt tummeln sich neben Gargoyles auch Elfen, Waldschrate, Zwerge und so weiter. Haben Sie neben der Fantasy auch einen Faible für klassische Märchen, wie z.B. von Hans Christian Andersen? Ich frage, weil mich die Schneekönigin an ihn erinnert.
Die Schneekönigin hat wie oben gesagt einen starken Bezug zum Märchen von Hans Christian Andersen, aber darüber hinaus liebe ich Märchen ohnehin. Neben meiner grundsätzlichen Leidenschaft für Geschichten liegt das vermutlich auch daran, dass sie aus einer Epoche stammen, von der wir heutzutage in mancherlei Hinsicht einiges lernen könnten und von deren Grundgedanken ich viele teile.
Was ist neben Schreiben Ihre größte Leidenschaft?
Ich bemühe mich, alles mit Leidenschaft zu tun, aber das funktioniert leider nicht immer. Natürlich brenne ich für die Literatur, ich interessiere mich auch sehr für Filme und Kunst und dergleichen, aber vermutlich ist meine größte Leidenschaft nach dem Schreiben das Leben, auch wenn ich mich damit weit weniger auskenne und auch keine besonders große Begabung darin habe, sondern es eher in Tonio Krögers Sinn von außen betrachte und seziere und mich gleichzeitig wie Thomas Manns Protagonist danach sehne. Vermutlich resultiert aus diesem Zwiespalt vieles von dem, was man unter der einen oder anderen oberen Schicht auch in meinen Geschichten finden kann.
Könnte – gesetzt dem Fall es gibt die Anderwelt – die Menschheit mit den Bewohnern der Anderwelt in friedlicher Koexistenz leben?
Wenn damit eine Anderwelt wie in Grims Geschichte gemeint ist: Nein, das denke ich nicht. Wir schaffen es ja noch nicht einmal, mit anderen Menschen friedlich zusammenzuleben, und was wir der Natur und unseren Mitgeschöpfen aus niedersten Beweggründen jeden Tag antun, spricht für sich. Wenn ich sehe, was heutzutage als Fortschritt bejubelt wird, wie wir mit der Welt umgehen und wie wir noch immer alles behandeln, was „anders“ ist, kann ich mir gut vorstellen, wie es beispielsweise einem kleinen Kobold wie Remis ergehen würde, wenn er sich der Weltöffentlichkeit zeigte. Gesetzt den Fall, dass die Welt, die ich in GRIM beschreibe, real wäre, müssten wir vermutlich genau das tun, was die Hartide den Menschen in der Geschichte beizubringen versuchen. Um eine äußere Vereinigung der Welten zu ermöglichen, müssten wir Menschen zuerst lernen, unsere innere Welt mit der äußeren Welt wieder in Einklang zu bringen. Erst dann würden wir fähig sein, weitere Schritte auf dem Weg zu einer friedlichen Welt zu gehen.
Liebe Gesa Schwartz! Ich möchte mich ganz herzlich bei Ihnen für dieses Interview bedanken und wünsche Ihnen gleichsam viele geneigte Leserinnen und Leser. Allem voran keine rachsüchtige Schneekönigin! Und beim Recherchieren passen Sie besser auf Ihre armen Füße auf *grins* sonst gibt es noch etliche Blasen gratis.
Ich bedanke mich. Leider gilt der Spruch „Wer schön sein will, muss leiden“ nicht nur für die Schönheit, sondern manchmal auch für das Geschichtenerzählen. 😉
Geneigte LeserInnen,
wie Ihr Euch überzeugen konntet, habe ich Euch nicht zu viel versprochen. Werft doch mal einen Blick auf die Hausseite der Autorin. Und folgt ihren Recherche-Spuren – es gibt einiges zu entdecken, zu verstehen vielleicht auch zum wieder Erkennen. Mir ist es jedenfalls so ergangen. Es wurden Erinnerungen aus Grim wach und welche an meine ItalienReise. Wir lesen uns.
Eure Ka